Berichte

Individuelles und kollektives Lernen

Lernen in Zeiten des kollektiven Umbruchs und Wandels auf Basis von Erkenntnissen der modernen Gehirnforschung und Philosophie großer Denker unserer Zeit

Dieser Essay gründet sich auf Erkenntnisse der neuesten Gehirnforschung, im Speziellen auf Univ. Prof. DDr. Gerald Hüther und Prof. DDr. Manfred Spitzer, sowie auf Inhalte der Logotherapie nach Viktor E. Frankl.

Dem ganzen stelle ich jetzt zwei Aussagen voran, die kurz gefasst das Wesentliche dieses Essays auf den Punkt bringen und ich anschließend versuche näher zu erläutern.

Alles das,
was dazu führt,
dass sich die Beziehungsfähigkeit von Menschen verbessert,
ist gut fürs Hirn und gut für die Gemeinschaft,
in der diese Menschen leben.
Alles,
was die Beziehungsfähigkeit von Menschen einschränkt
und unterbindet, unterminiert,
ist schlecht fürs Hirn und schlecht für die Gemeinschaft.
(Gerald Hüther)

Der Übergang vom Affen zum Menschen,
das sind wir!
Jetzt müssen wir uns entscheiden.
(Konrad Lorenz)


Beziehungsfähigkeit ist also die Grundlage für jegliches Lernen und das beginnt schon als Neugeborenes (bzw. auch schon vorgeburtlich). Die Hauptbedürfnisse eines Kindes sind: Dazugehören wollen (Verbundenheit) und Wachsen wollen (Lernen).
Das einzige, was ein Kind braucht, sind andere Menschen, mit denen es seine Wahrnehmungen, seine Empfindungen, seine Erfahrungen und sein Wissen teilen kann. (G. Hüther, Kinder brauchen Wurzeln S 34)
Neueste Studien zeigen: Kindergehirne sind formbarer - und deshalb auch verformbarer - als man noch bis vor wenigen Jahren geglaubt hatte. Keine andere Spezies kommt mit einem derart lernfähigen Gehirn zur Welt wie der Mensch. Ein Babygehirn ist sozusagen die reinste „Lernmaschine“. Allerdings ist auch bei keiner anderen Art die Hirnentwicklung in solch hohem Ausmaß von der emotionalen, sozialen und intellektuellen Kompetenz der erwachsenen Bezugspersonen abhängig wie beim Menschen!
Denn um hochkomplexe Verschaltungen im Gehirn ausbilden zu können, müssen Kinder möglichst viele und möglichst unterschiedliche Erfahrungen machen. Dazu brauchen sie vielfältige stimulierende, alle ihre Sinne aktivierende Angebote und Herausforderungen.
Kinder müssen sich geschützt wissen (Sicherheit) von ihren erwachsenen Bezugspersonen, die auch zu ihren Vorbildern werden. Sie brauchen von diesen ein vielfältiges Angebot, um so ihre eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten erkennen und entwickeln zu können.

Wenn das gegeben ist, dann ist es die bestmögliche Voraussetzung für lebenslanges Weiterlernen und ein zufriedenes, verantwortliches, eigenständiges und kreatives Leben. Bis zum 6. Lebensjahr wird im Gehirn (falls die obigen Voraussetzungen dafür gegeben sind) ein dichtes Netz an Verbindungen, Fortsätzen und Verknüpfungen gebildet.
Dann müssen auch Erfahrungen gemacht werden, und die Verschaltungen benutzt werden, damit sie stabilisiert werden können. Ansonsten bilden sie sich wieder zurück. Das passiert auch in der Regel in der Schulzeit. Von 6 – 14 Jahren bilden sich viele Verschaltungen wieder zurück. (Hüther, Vortrag: Wohin, weshalb, wofür? S. 21)

Gehirngerechtes Lernen, was heißt mit allen Sinnen lernen, den angeborenen Forschergeist aktiv halten können, Erfahrungen sammeln und Zusammenhänge herstellen können, wird in den meisten Schulen noch nicht praktiziert.

Unser Gehirn ist nicht darauf ausgerichtet, Details zu lernen, sondern durch das Detail das allgemeine Gesetzt, das dahinter steckt.

Beispiel: Wenn das Kleinkind beim Gehen lernen vor dem Stuhl hinfällt, lernt es nicht, dass es vor dem Stuhl hinfällt, sondern dass es hinfällt, wenn es das Gleichgewicht auf das falsche Bein verlagert.
Unser Gehirn ist darauf ausgerichtet, Zusammenhänge zu erkennen und zu lernen!

Gehirngerechtes Lernen gilt natürlich auch für die Erwachsenenbildung. Die positive Nachricht ist ja, dass wir an sich bis ins hohe Alter lernfähig sind.

Durch die bahnbrechenden bildgebenden Verfahren 1) in der modernen Hirnforschung weiß man jetzt – seit wenigen Jahren: Die sogenannte Plastizität des menschlichen Gehirns bedeutet, dass es lebenslang veränderbar, ausbaubar, anpassungsfähig ist. Sogar die Masse der Gehirnzellen ist, entgegengesetzt der früheren Auffassung der Wissenschaftler, nicht endgültig festgelegt, sondern kann im Verlauf des Lebens noch zunehmen. Die Art und Weise der Nutzung des Gehirns hat einen entscheidenden Einfluss darauf, welche neuronalen Verschaltungen angelegt und stabilisiert oder auch destabilisiert werden. Die innere Struktur und Organisation des Gehirns passt sich also an seine konkrete Benutzung an. Das Gehirn eines Menschen bildet sich nachdem, wie es gebraucht wird. ( Hüther)

Aber man kann mit dem Gehirn gar nichts wirklich neues Lernen!

Jede neue Erfahrung, jede neue Sinneswahrnehmung, jedes Vokabel einer Fremdsprache muss an etwas anknüpfbar sein, also mit etwas assoziierbar sein, das schon da ist, dass man vorher schon gelernt und im Gehirn verankert hat. Denn wir kommen mit einem bereits vorhandenen Wissen auf die Welt, an das wir dann anknüpfen. Tief verankert wird neues Wissen dann, wenn es an das vorhandene Wissen anknüpfbar ist. (um so wichtiger also, dass Kinder vielseitige Erfahrungen machen können) Gleichzeitig müssen die emotionalen Zentren aktiviert sein. Das heißt, es braucht Interesse, Begeisterung, ein „sich berührt fühlen“, um etwas lernen zu können. Das ist sozusagen der Treibstoff für das Gehirn. Das, was uns „unter die Haut“ geht, wird emotional und kognitiv im Gehirn verankert.

Die Psychoanalytikerin und Psychotherapeutin Maja Storch beschreibt in ihrem Buch „Das Geheimnis kluger Entscheidungen“ sehr klar und anschaulich, dass wir ohne Emotionen und unser Unbewusstes keine Entscheidungen treffen können. Maja Storch nennt dies „emotionales Erfahrungsgedächtnis“. Ihre einleuchtende Schlussfolgerung ist, unsere Emotionen und Körperempfindungen bewusst wahrzunehmen und einzubeziehen in unsere Entscheidungen. Denn entscheiden müssen wir uns täglich 100e male. Das beginnt ja schon beim Aufstehen. Das heißt also, es ist nicht klug, das Denken von unseren Emotionen zu trennen, vielmehr müssen wir lernen, unsere Emotionen mehr zu würdigen und als Potential zu erkennen und zu integrieren.

Bisher hielt man es für selbstverständlich, dass der Mensch sein großes Gehirn zum Denken besitzt. Forschungsergebnisse der letzten Jahre haben jedoch deutlich gemacht, dass der Bau und die Funktion des menschlichen Gehirns in besonderer Weise für Aufgaben optimiert sind, die wir unter dem Begriff „psychosoziale Kompetenz“ zusammenfassen. Unser Gehirn ist demnach weniger ein Denk- als vielmehr ein Sozialorgan. (Hüther, Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, S 18)

Unter dem Begriff Psychosoziale Kompetenz versteht man die Fähigkeit zur Selbstregulation von körperlichen, seelischen und geistigen Prozessen auf persönlicher Ebene. Darüber hinaus geht es dabei auch um die Fähigkeit soziale Kontakte zu gestalten und um das Bewusstsein der eigenen Verantwortung gegenüber dem sozialen und ökologischen Umfeld.
Damit nähert sich der Begriff »psychosoziale Kompetenz« dem Gesundheitsverständnis, so wie es seit 30 Jahren von der Weltgesundheitsorganisation WHO definiert wird: Gesundheit bedeutet »einen Zustand des körperlichen, seelischen, geistigen, ökonomischen und sozialen Wohlbefindens«.
Nach Meinung vieler Experten aus Wirtschaft und Gesellschaft ist das eine der wichtigsten Schlüsselqualifikation zur Bewältigung der gegenwärtigen und künftigen Herausforderungen in unserer Zeit des Umbruchs.
Laut der modernen Gehirnforschung ist diese Kompetenz also ohnehin grundlegend in unserem Gehirn verankert. Sie wurde bislang nur nicht nur nicht gefördert, sondern eher unterdrückt.

Hüther sagt, wir sind im Übergang von einer „Ressourcen ausnützenden“ Gesellschaft in eine „kreatives Potential fördernde“ Gesellschaft.

Spezialisierung und Wettbewerb sind zum Motto der westlichen Gesellschaft geworden. Das begünstigt aber nur, dass man auf einen einmal eingeschlagenen Weg noch besser, noch schneller, noch betriebsblinder wird. Es ist keine Entwicklung und auch kein Fortschritt. Hüther sagt: Entwicklung findet dann statt, wenn sich zwei begegnen und unterschiedliche Erfahrungen miteinander verschmelzen, seis im zwischenmenschlichen oder im wissenschaftlichen Bereich, philosophischen oder gesellschaftlichen usw. Es geht darum die jeweiligen Potentiale zu fördern, dann kann ein kreatives gemeinsames drittes entstehen. Es muss ein Geist des miteinander Wachsens, füreinander Einstehens und voneinander Lernens geweckt und entwickelt werden. Dann können kreative humane Potentiale freigesetzt werden, die zu neuen Lösungsmöglichkeiten und zur Entwicklung führen.

Anlässlich der Gründung des „Forum Humanums“ gibt G. Hüther folgendes Statement ab:
"Wenn wir weiter wie bisher als voneinander getrennte Experten nebeneinanderher und aneinander vorbei arbeiten, wird es weder gelingen, die gegenwärtig in unserer Gesellschaft und vor allem in der Wirtschaft ablaufenden Veränderungsprozesse zu verstehen, geschweige denn, auf kreative und nachhaltige Art und Weise zu gestalten. Als Mitbegründer des forum humanumsist es mir ein besonderes Anliegen, hier eine Plattform für den offenen Meinungsaustausch, für Entwicklung konstruktiver Ideen und für die Identifikation und Überwindung von Hindernissen und Fehlentwicklungen zwischen erfahrenen und sachkundigen Vertretern verschiedener Disziplinen und Arbeitsgebiete zu schaffen. Ich hoffe, dass sich das forum humanum zu einem Kristallisationspunkt entwickelt, an dem die von den Mitgliedern in ihren jeweiligen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebenszusammenhängen gemachten Erfahrungen zusammengeführt werden und an dem zukunftsweisende Konzepte für die Gestaltung einer humanen Lebens- und Arbeitswelt weiterentwickelt werden."

Beim „Forum Humanum“ geht es also darum, eine Brücke zwischen natur- und geisteswissenschaftlichen Weltbildern zu bauen, die eine Verbindung zwischen materiellen und geistigen Prozessen, zwischen der äußeren Struktur und der inneren Gestaltungskraft aller Lebensformen schafft.

Bewegungen des „Brücken bauens“, Austausches auf den verschiedensten Ebenen im kleinen persönlichen Bereich, sowie im großen gesellschaftlichen und globalen Bereich finden ja weltweit schon statt und werden auch immer häufiger. Dank der neuen Technologien ist eine globale Vernetzung möglich und wird auch genützt.

Diese Netzwerke sind also eine begrüßenswerte moderne Art des miteinander Lernens.

Vernetzung findet nicht nur im Außen statt, sondern – wie schon beschrieben – im Gehirn. Wie oben erwähnt, ist unser Gehirn darauf ausgerichtet, Zusammenhänge zu verstehen und zu lernen.

Dazu ist die Aussage des Philosophen und Univ.Prof. Dr. Wilhelm Schmid bemerkenswert:
Sinn heißt Zusammenhänge erkennen und herstellen. Indem wir Zusammenhänge erkennen, bzw. herstellen können, finden wir Sinn.“ (Kongress: Dimensionen des Lebens, 2009).

Und wenn wir Sinn finden, finden wir auch Orientierung und Ziele und sind ausreichend motiviert, weiter zu lernen. Dann machen wir die Erfahrungen der Selbstwirksamkeit, des Vertrauens in uns selbst und unsere Fähigkeiten und des Vertrauens in andere.

Eine innere Haltung und eigene neue Struktur zu entwickeln ist heutzutage die Herausforderung an jeden einzelnen.
Unter innerer Haltung ist folgendes gemeint: Die Fähigkeit, Verantwortung zu übernehmen, Empathiefähigkeit und soziale sowie emotionale Kompetenz.
Haltungen müssen vorgelebt werden, sie können nicht unterrichtet werden!

Der globale Wandel von einer starren traditionellen Gesellschaft mit vorgegebenen Strukturen und Regeln geht über den Pluralismus, die Individualisierung und den Wertewandel zu einer fluiden postmodernen Gesellschaft, die von Entgrenzung gezeichnet ist. Etwas, was Halt bietet so wie früher, ist nicht mehr da. Es entsteht Ratlosigkeit. Die Menschen sind das erste Mal gezwungen in sich selbst eine Struktur zu finden. Wir brauchen etwas Inneres, das uns Halt – die innere Haltung also.
Konrad Lorenz drückt es in seinem eingangs erwähnten Zitat als den Übergang vom Affen zum Menschen aus.

Viktor E. Frankl drückte es in seinem Buch: „ Der Wille zum Sinn“ kurz und prägnant aus: 2)
Im Gegensatz zum Tier sagt dem Menschen kein Instinkt, was er muss,
und im Gegensatz zum Menschen in früheren Zeiten, keine Tradition, was er soll -
und nun scheint er nicht mehr recht zu wissen, was er will.

Boundary Management ist ein anderes Schlagwort: Menschen müssen lernen, ihre eigenen Grenzen zu finden und zu ziehen auf Basis ihrer Identität, Werte, sozialen Beziehungen und kollektiven Einbettung.
Die Bedeutsamkeit der Welt, in der man lebt, die eigene Bedeutsamkeit verstehen und einordnen zu können. Wenn dies gelingt, können Menschen wieder das entwickeln, was man Kohärenzgefühl nennt nach dem Konzept von Antonovsky.

„Das Kohärenzgefühl ist eine globale Orientierung, die ausdrückt, in welchem Ausmaß man ein durchdringendes, dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind; einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen; diese Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengung und Engagement lohnen.“

– Aaron Antonovsky : Salutogenese. Zur Entmystifizierung der Gesundheit . 1997, S. 36

Diese Fähigkeiten zurück zu gewinnen scheint der wichtigste gesund machende Faktor unserer Zeit zu sein.

Als Erwachsenenbildnerin sehe ich es wohl auch in meinem Aufgabenbereich, dieses Wissen und diese Haltung weiterzutragen – so gut ich kann.


Kurze Zusammenfassung Lernen im Allgemeinen:

Beziehungsfähigkeit ist das um und auf, das Lernen ermöglicht:
Verbunden sein – sichere emotionale Bindungen
Über sich hinauswachsen können
Übernommene Fähigkeiten, Überzeugungen, Haltungen
Selbstwirksamkeit erfahren – immer wieder
Vertrauen in sich selbst
Vertrauen in andere
Darauf aufbauend:
Herausforderungen, die erfolgreich bewältigt werden können – immer wieder.
Übergeordnete Muster:
Positive Vorstellungskräfte
Orientierung, Sinn - wissen, was man weshalb anstrebt.

Zum Abschluss noch ein Zitat von Viktor E. Frankl:

Man pflegt zu sagen: Wo ein Wille, dort ist auch ein Weg.
Ich wage zu behaupten: Wo ein Ziel, dort ist auch ein Wille.

 

1) Bildgebende Verfahren (die es erst seit wenigen Jahren gibt) haben das methodische Instrumentarium der Hirnforschung entscheidend erweitert: sie ermöglichen es, dem Gehirn beim „Denken, Fühlen und Handeln“ zuzusehen. Dieses Verfahren trägt wesentlich dazu bei, die Funktionsweise des Gehirns auf einem höheren Niveau als bislang zu verstehen.
2) In der Logotherapie nach Viktor E. Frankl steht die Sinnfindung und die Orientierung an Werten im Zentrum. Sie bietet in unserem Umbruchs-Zeitalter Ermutigung und Hilfestellung in schwierigen Lebenslagen und fördert die Kompetenz im zwischenmenschlichen Bereich.

Literatur:

Univ. Prof. DDr. Gerald Hüther:
Kinder brauchen Wurzeln, 2001, Walter Verlag
Biologie der Angst, 1997, Sammlung Vandenhoeck
Evolution der Liebe, 1999, Sammlung Vandenhoeck
Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, 2002, Vandenhoeck & Ruprecht

Maja Storch, Das Geheimnis kluger Entscheidungen, 2008, Goldmann Verlag

Internet:

Vortrag von Univ. Prof. DDr. Gerald Hüther, Göttingen, 2007, Wohin, weshalb, wofür? Über die Bedeutung innerer Leitbilder und Orientierungen für die Nutzung und Strukturierung des menschlichen Gehirns. www.existenzanalyse.co.at/huether.html

Kongress 2009: „Dimensionen des Lebens“ www.logotherapie-wien.at/kongress2009.html

Medien:
Geist und Gehirn, Folge 5, Lernen, Lust und Leistung, Prof. Dr. Dr. Manfred Spitzer, DVD Auditorium Netzwerk

 

 

 

 
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